Tag 10 – die Nacht unterschied sich nicht groß von den vorherigen, oft mit Schmerzen wach gelegen, Musik auf den Ohren um die Geräusche im Saal fernzuhalten und unbequemes Liegen. Wenigsten knarrten und wackelten die Betten nicht so schlimm, durch das Holz waren sie recht stabil und die knarrenden Dielen wenn jemand aufstand konnte ich durch die Musik auf meinen Kopfhörern ausblenden. Es war nicht zu warm und die Erwartung auf die kommende Nacht und ein kuscheliges Bett in einem Einzelzimmer, machte die letzte Herbergsnacht absolut erträglich.
Irgendwann musste ich so tief eingeschlafen sein, dass ich das erste mal nicht als Erste noch vor Klingeln des Weckers aufwachte. Ich schlief noch seelig, als ich mit einem Schreck erwachte, weil mir jemand an die Brust gegriffen hatte. Als ich die Augen öffnete stand Sonja vor mir um mich zu wecken und wir mussten beide anfangen zu lachen. In der Stille des Schlafsaales brusteten wir und verkniffen uns einen lauten Lachanfall, da wir niemanden wecken wollten.
Nach dem ersten “Schock” stand ich geschwind mit den anderen auf und unsere Gruppe schlich sich mit Sack und Pack im Dunkeln nach draußen.
Der Regen vom Vortag hatte den frühen Morgen etwas abgekühlt und die seichte Temperatur war angenehm zum Laufen. Die ersten 10 km waren eigentlich recht angenehm. Mein linker Knöchel schmerzte weiterhin, war aber etwas besser, die Schmerzen im Schienbein waren viel besser.
Es ging bei ca. km 10 einen steileren Weg durch den Wald und oben angekommen wartete schon ein Café auf unsere Einkehr. Wir holten uns das bisher teuerste Frühstück vom ganzen Weg, die Dame der Location schien ihre Lage reichlich auszunutzen. Doch es war nötig und tat gut.
Wir begannen irgendwann alle zu frieren und gingen direkt nach dem Frühstück weiter und ab da begannen die ersten Straßen wieder gut steil nach oben zu laufen.
Sven hatte uns bereits vorab gewarnt, dass die letzte Strecke noch mal eine harte Nuss werden würde, viel bergauf und bergab. Und diese Strecke tat meinem Knöchel nicht gut, er fing über die Dauer des Weges an, wieder schlimmer zu werden. Hinzu kam, dass sich nun die nächsten Kilometer furchtbar zogen. Der letzte Tag war mit Spannung geladen, wir wollten alle einfach nur noch ankommen. Die Lust auf das Laufen war uns über die letzten Tage so langsam vergangen. Ich steckte mir irgendwann die Kopfhörer mit Musik ins Ohr um mich von den Schmerzen und der Anstrengung abzulenken, das erste mal dass ich dies während des Laufens tat.
Wir zählten jeden Kilometerstein und ich hatte das Gefühl, für 200 m ewig zu brauchen. Doch es war ein gutes Gefühl, als wir den ersten Kilometer-Stein mit der 2 vorne passierten. Und so liefen wir ohne Pause weiter bis wir an dem ersten Stein mit der 1 vorne vorbei kamen und nun begann das Fiebern auf die ersten Steine unter 10.
Man hatte das Gefühl wie in einem Alptraum, in dem man immer mehr läuft und läuft, aber nicht vorwärts kommt. Doch irgendwann kam der erste Stein unter 10 und eine Woge von Motivation schwang durch unsere Gruppe und trieb uns weiter vorwärts.
Ich weiß nicht mehr genau wann, aber irgendwann hatten Sonja und ich einen Lauf. Wir zählten jeden Stein. Ich warf erst die Beatles an, dann Elvis und Queen in die Playlist und getrieben von dem Willen endlich anzukommen, dem zehren aus unserer letzten Energie und den Klängen der Musik, spurteten wir Zwei vorwärts Richtung Santiago. Wir machten Scherzte, lachten viel und sangen fröhlich bei der Musik mit.
Herzlich riefen wir jeden der uns entgegen kam ein „Buenas Díaz“ zu und marschierten alla „Speedy Gonzales“ weiter vorwärts. Als in der Ferne die Dächer Santiagos vor uns auftauchten, erwärmte ein Gefühl des Ankommens unsere Herzen.
Irgendwann kam uns in den Sinn, wie verrückt (muchas loco :D) das für Außenstehende aussehen musste, doch das brachte uns nur noch mehr zum Lachen.
Wir nutzen die Energie und schafften es in rasantem Tempo bis zu unter 3 Kilometer. Hier blieben wir stehen weil der Weg sich teilte und wir und unsicher waren, wo es lang geht. Ein Weg führte in den Wald und einer in die Stadt und als Sven und René uns aufgeholt hatten bestätigte sich unsere Vermutung, dass es Richtung Stadt weiter ging. Der Waldweg wäre die längere Strecke gewesen und wir waren einfach froh, endlich anzukommen.
Das Gefühl nach Santiago zu kommen und die letzten Kilometer zu laufen ist unbeschreiblich. Ich kann das nicht in Worte fassen, man muss es einfach selbst einmal erleben und das möchte ich jedem ans Herz legen.
Bereits am ersten Tag hatte ich das Talent, dass mir regelmäßig Steinchen in die Schuhe flogen. Ständig musste ich meine Schuhe ausleeren und teilweise lief ich Kilometerweit mit allem möglichen an Dreck im Stiefel weiter. Das Highlight war der vorherige Tag gewesen, an dem es ständig bergauf und -ab durch den Wald gegangen war. Sven und ich mussten auf einer Bank pausieren und die Schuhe leeren, weil es sich ungelogen so anfühlte, als liefen wir barfuß über Geröll.
An diesem Tag hatte ich das erste mal das Gefühl, dass die Steinchen so schmerzten, dass ich nicht weiter laufen kann und ich musste beim Einlaufen in die Stadt tatsächlich meine Schuhe ausleeren weil ich sonst nicht hätte weiter laufen können.
Irgendwann blieb unser Vierertrupp an einer Bank stehen, da wir gerne gemeinsam mit dem Rest unserer Gruppe an der Kathedrale ankommen wollten. Chris kam irgendwann als erster angeschlendert, Felix und Jan waren unterwegs etwas zurück gefallen, weil sie auf die Toilette mussten. Es dauerte mehr als 15 Minuten, bis sie bei uns ankamen. Sie erzählten uns, dass sie einen Trampelpfad genutzt hatten um den Weg abzukürzen, doch dieser stellte sich nicht als Abkürzung, sondern als Weg in einen privaten Garten heraus. Dort erwartete sie ein knurrender Steffordshire Terrier, der sie bellend über das Gelände jagte, bis sie durch einen Brombeerbusch über eine Mauer fliehen konnten. Besondere Jans Beine waren sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, die Brombeerdornen hatten ihm einige Kratzer zugefügt.
Endlich wieder vereint, marschierte unsere Pilgertruppe den Rest des Weges in die Stadt hoch. Es war ein grandioses Gefühl, die Türme der Kathedrale zwischen den Gassen aufragen zu sehen. Ein Spielmannszug kam unterdessen an uns vorbei und begrüßte uns mit Pauken und Dudelsack, wir hatten alle Gänsehaut. Es war wie eine Hintergrundmusik, die im Finale unseres grandiosen Abenteuers gespielt wurde, als hätten sie auf uns gewartet.
Wir fühlten uns wie kleine Helden als wir den Platz vor der Kathedrale betraten.
Irgendjemand sagte nur: „Wir haben es geschafft!“ und diese Worte trieben mir augenblicklich Tränen in die Augen. Ich wiederholte: wir haben es geschafft, mehr zu mir selbst als zu den anderen und blinzelte die Tränen weg. Ich weiß nicht ob ich vorher je so sehr das Bedürfnis gehabt habe, gleichzeitig zu lachen und zu weinen.
Wir waren jetzt Peregrinos und Peregrinas, die das Ziel ihres Weges erreicht hatten.
Wir zogen unsere Rucksäcke aus und freuten uns gemeinsam über unseren Triumph. Wenig später kamen auch Marie, Vitka, Astrit und Caro an, Sonja erspähte sie schon über den Platz und wir riefen lauthals ihre Namen. Es folgten Umarmungen und Erleichterung machte sich breit, alle waren am Ziel und alle waren glücklich.
Sven hatte bereits Domi geschrieben, dass wir angekommen sind und hielt Ausschau nach den beiden. Währenddessen wurden Fotos gemacht, Erfahrungen ausgetauscht und den Lieben daheim geschrieben. Auch ich schrieb meiner Familie und meinem Freund, dass ich angekommen bin, ich hätte sie alle an diesem Moment gerne in den Arm genommen.
Wir trafen auf dem Platz Menschen wieder, die wir im Laufe der letzten Tage kennen gelernt hatten, mehr Umarmungen, mehr Erinnerungen und ein einziges Gefühl der Gemeinschaft.
Selbst noch ganz euphorisch von dem Augenblick hörte ich Sven sagen: “Da sind sie!” und er lief los zu seiner Familie. Der Moment, als ihm seine Zweieinhalb Jahre alte Tochter in den Arm lief war magisch und alle Tränen die ich in den letzten Tagen untergeschluckt hatte kamen hervor. Wir alle standen um diese rührende Szene herum und weinten, während Sven die kleine Amelie schier eine Ewigkeit im Arm hielt. Sie krallte sich noch an ihn als er aufstand um auch seine Frau in den Arm zu nehmen.
Als ich dachte mein Herz könnte nicht größer werden kam Amelie auch zu mir, um mich zu begrüßen und hing wie ein kleines Klammeräffchen in meinem Arm. Ich musste schon wieder weinen.
Der Tag war unglaublich emotional. Meine Familie war unglaublich stolz und es tat mir gut ihre Nachrichten zu bekommen, als auf einmal von Tobi – meinem Freund – ein Foto kam mit der Frage: Rate mal wo ich bin.
Das Foto zeigte die Universität von Santiago, vor derer wir uns befanden, und auf einmal fühlte ich mich wie in einem Film.
Mein Herz begann wie wild zu schlagen, ich blickte mich verwirrt auf den Platz um, meine Gedanken ratterten und kämpften gegeneinander an: „Ist er etwa hier? Nein so ein Quatsch, das wird irgendwo in Mainz sein, ja aber wo? Oder vielleicht doch? ….“
Ich ging einige Schritte auf den Platz vor und blickte mich um. Auf dem Bild war die Pferdestatue zu sehen die auf dem Gebäude thronte, welches hinter uns lag. Ich wusste plötzlich gar nichts mehr mit mir anzufangen und hilflos ging ich zu Domi, um ihr das Bild zu zeigen. Sie zuckte nur die Schultern und ich schaute weiter über den Platz und da kam er plötzlich.
Ich werde nie diesen Moment vergessen, wie Tobi zwischen den Menschen hervortrat, eine Rose in der Hand und mit diesem wunderbaren Lächeln auf den Lippen, das ich so liebe.
Ich konnte nicht mehr still stehen. Erneut kamen mir die Tränen, ich lachte und weinte, rannte los und fiel ihm schwungvoll um den Hals.
10 Tage war ich den Camino gelaufen, 10 Tage die sich wie Wochen angefühlt hatten, 10 Tage in denen ich Schmerzen und Anstrengungen hinter mich gebracht und etliche Eindrücke gesammelt hatte.
Das alles war in diesem Moment vergessen, es zählte nur dieser Augenblick, in dem der Mann den ich so unglaublich liebe hier stand, in Santiago de Compostela, am Ziel meines Weges und mich im Arm hielt und am Ziel meines Weges begrüßte.
So ein Glücksgefühl kann man nicht beschreiben, ich wollte platzen vor Überraschung und Freude. Es stellte sich heraus, dass er bereits seit einem halben Jahr auf diesen Tag hin gefiebert hatte. Ein halbes Jahr zuvor hatte er mit Domi und Sven den Plan ausgeheckt, mich in Santiago in Empfang zu nehmen. Meine Freunde und Familie, alle wussten Bescheid.
Und ich war sprachlos. Ich wollte ihn gar nicht mehr loslassen, aus Angst dass er gleich wieder verschwindet. Immer wieder musste ich in seine wunderschönen blauen Augen blicken um mich zu vergewissern, dass ich nicht träumte.
Selbst während ich diese Zeilen schreibe, bekomme ich noch eine Gänsehaut. Das hat noch nie ein Mensch für mich getan und es festigte nur umso mehr den Wunsch, ihn nie wieder los zu lassen.
Der Tag war so emotionsgeladen und ich werde ihn nie vergessen.
Es wurde noch ein schöner Tag in der Großstadt mit dem Mann den ich liebte, meinen wertvollen Freunden und tollen Menschen die ich auf dem Weg kennen gelernt habe.
Nach einer ausgiebigen Dusche bummelten Tobi und ich durch die Souvenirläden und trafen uns dann anschließend mit den anderen zum Essen. Laut Sven ist ein Must See, wie der Weihrauch während der Pilgermesse in der Kathedrale geschwungen wird. Leider fand die Messe wegen Renovierungsarbeiten nicht statt, also umarmten wir nur den heiligen Jakobus von hinten und stellten ihm unsere Wünsche, um anschließend in einer Bar mit dem Rest unserer neuen Pilgerfreunde zu verbringen.
Meine Abschlussworte zu der Reise auf dem Camino de Portuguese
Zu aller erst, ich bereue nicht diesen Weg gemacht zu haben und würde ihn trotz aller Strapazen wieder auf mich nehmen.
Es gibt Momente auf dem Weg, vor allem wenn es lange bergauf geht, in denen möchte ich einfach nur stehen bleiben und mich ausruhen. Doch alle anderen laufen, alle anderen machen einen Schritt nach dem anderen, also mache ich das auch, also schaffe ich es hoch, ohne aufzugeben. Es hat mir sehr viel geholfen so viele tolle Menschen um mich zu haben, die mich auf dem Weg begleitet haben. Doch auch hat mir geholfen, wie viel Stolz und Bestätigung ich Von daheim bekommen habe. Es ist schön zu sehen, dass meine Lieben so hinter dem stehen was ich da getan habe und meine Leistung schätzen.
Es war anstrengend, manchmal dachte man, man will einfach nicht mehr und manchmal lief es wie geschmiert.
Man kommt mit dem wenigsten aus was in den Rucksack passt und muss sich auf Situationen einstellen, die man nicht gewohnt ist.
Dir ist vollkommen egal was andere über dich denken, wir haben in einem chiceren Lokal mit Badelatschen gesessen, haben in Unterwäsche mit Fremden in einem Raum geschlafen und sind verschwitzt und dreckig durch Innenstädte gelaufen.
Egal ob es zu warm oder zu kalt ist, der Weg steinig oder gepflastert, durch Feld, Wald und Städte läuft. Egal ob es nach oben oder nach unten geht, du läufst weiter, denn du hast ein Ziel vor Augen.
Alles andere wird unwichtig, es geht nur um jeden nächsten Kilometer. Man läuft und läuft und verliert völlig das Gefühl für Zeit und Entfernungen. Manchmal kommt einem eine Stunde wie eine Minute vor, oder 5 Tage wie eine Ewigkeit. Ich hatte das Gefühl ich war 10 Wochen unterwegs. Der Körper und Geist stellt sich nur noch auf das Hier und jetzt ein und in den letzten 10 Tagen habe ich gelernt, warum man sagt, dass der Weg das Ziel ist.
Wir haben tolle Menschen hier kennen gelernt, mit denen wir im Alltag vielleicht nie gesprochen hätten und viele tolle Abende verbracht. Man hat über Dinge gesprochen, über die man niemals mit eigentlich Fremden reden würde und wurden Teil einer Gemeinschaft in der man füreinander da ist und einander begleitet.
Ich habe mich selbst an Grenzen gebracht, die weiter reichten, als ich es mir selbst zugetraut hätte. Ich konnte mich selbst besser kennen lernen und bin positiv überrascht, dass ich das ganze so gut durchgestanden habe, ohne große Wewehchen. Und das macht mich auch stolz auf mich selbst.
Danke Sven für diese tolle Erfahrung die ich wegen dir machen durfte. Ich werde diese Zeit nie vergessen. <3
Auch Danke an all die Menschen die wir kennen gelernt haben und mit denen ich viel gelacht habe.